Die Weltretter-Familie

Mann mit einem Beutel mit der Aufschrift: "Save the earth".

Folge 1: Auf Stromspar-Mission

Bei uns zu Hause retten wir ja die Welt. Jeden Tag. Das kann ganz schön anstrengend sein. Meine Frau hat sich neulich erst mal abgesetzt. Ich glaube, ihr wurden diese ganzen Stromdebatten zu viel.

Das ist ein Teil der Pubertät, auf den Dich niemand vorbereitet: Schlechte Schulnoten, ja. Rumgemuffel 24/7, logo. Aber dass man sich auf Schritt und Tritt rechtfertigen muss vor einer 14-Jährigen? Never! Ever!

Die Frau hat sich jedenfalls vom Acker gemacht, längere Auslandsreise angeblich, Kenia angeblich, aber wer weiß. Vielleicht braucht sie einfach mal wieder ihre Ruhe, egal in welchem Hotel egal wo auf der Welt.

Hier bei uns ist man ja auch nachts nicht mehr sicher. Gerade bin ich beim Podcast-Hören eingeschlafen (Heimlich! Strom!), da sitze ich auch schon wieder aufrecht im Bett: Dunkel ist's, einzelne kleine Lämpchen von irgendwelchen Geräten pieksen grüne und rote Punkte ins Schwarz, ich versuche, mich zu orientieren. Nachts zwischen zwei und drei ist es, entscheide ich, die einzige Tageszeit, in der Friede herrscht. Eigentlich. Vom Flur kommen seltsame Geräusche. Etwas bewegt sich, scharrt, wühlt, stellt Dinge umher...

„Leni???“

Ich bin im Flur, einen Fuß in einem Filzpantoffel, den anderen habe ich so schnell nicht gefunden. Die Tochter kniet im Pyjama über dem Schuhregal, ihre langen blonden Haare fließen über meine alten Fußballschuhe auf den Boden.

„Pschschscht!“, macht sie.

„Pschscht???“, frage ich.

Keine Antwort.

„Was machst du da?“

Helena holt ihren Kopf hinterm Schuhregal hervor, steht langsam, würdevoll auf und schaut mich indigniert an.

„Gibt es keinen Hauptschalter?“ Fragt sie. „Für Strom?“

Ich spähe durch den Flur. Beide Schuhregale stehen nur noch punktuell an der Wand, die alte Wickelkommode ist abgerückt, gezogene Steckerkabel liegen am Boden.

„Nicht nachts um zwei“, sage ich mit meiner daddigsten Daddystimme, mit der ich gezielt ausstrahle, dass man sich beruhigen solle, alles werde schon werden.

Funktioniert leider nie. Lenis Wangen werden tiefrosa.

Verschiedene Heizungsstromzähler

„Der Planet ist vielleicht wichtiger als die piep Uhrzeit?“ (Wir sagen jetzt immer „piep“ statt unsachgemäßer Ausdrücke.)

Ja nu, Planet. Im Moment ist mir die Uhrzeit eigentlich wichtiger. Die Uhrzeit würde ich gern behalten und ordnungsgemäß schlafen, selbst wenn sie mir dafür einen anderen Planeten unters Kopfkissen schieben.

„Du musst nicht alle Stecker ziehen, Süße“, erkläre ich, „die Geräte haben alle einen Standby-Modus. Der hilft uns, Strom zu sparen!“

„Boah!“, sagt Leni laut.

„Pschschscht!“, mache ich. Ich denke an Niko, der schlafen muss, weil er morgen eine Arbeit schreiben muss, Geschichte, Mathe oder so etwas in der Richtung. Er hat sich am Abend früh zurückgezogen. „Keine Playse heute, Dad, nur noch bisschen lernen und dann früh ins Bett“. Ich habe ihm dafür ein Thumbs-Up gegeben, als wäre ich so ein Stoffeldaddy in einem Achtzigerjahrefilm, und ich würde von Bill Murray gespielt.

Helena gibt mir ein Facepalm, mit links. „Papa, ey“, sagt sie, „schon mal was von Schein-Aus gehört? Schon mal ausgerechnet, einfach nur mal ausgerechnet, was wir in dieser Wohnung an Strom verbrauchen, einfach nur, wenn wir schlafen?“


Schein-Aus, hm...

Ich glaube, davon hat mir Holger mal erzählt, der Ingenieurnachbar. Strom-Holger, wie Anja ihn nennt. Holger war ganz außer sich, das ist schon ein paar Jahre her, er hat mir mit so einem Steckdosen-Messgerät vor der Nase rumgewedelt, hat irgend etwas von einem Power-Knopf an seiner Waschmaschine erzählt, – („Ein MECHANISCHER Knopf!“) – , was ich vorsichtshalber bewundernd gespiegelt habe („Oh, mechanisch. Oho!“), dann nannte er mir eine Stromzahl, die er gemessen habe, WÄHREND DER KNOPF AUF OFF STAND – und das Ergebnis von Holgers Forschungen war, dass seine Waschmaschine im Standby mehr Strom verbrauchte als Malta, IM OFF!!! Holger ist ein ruhiger, angenehmer Mensch, aber er kann ziemlich emotional werden, wenn es um Strom geht.

„Standby-Modus, Papa? Ernsthaft? Du weißt, dass der Standby-Modus in Deutschland zwei Atomkraftwerke betreibt?“ Jetzt habe ich sie. „Betreibt“ ist hier falsch eingesetzt, sagt mein langsames Hirn. Und Deutschlands letzte Atommeiler sind seit April ...

Helena fummelt jetzt an der Gegensprechanlage herum. Grünlich leuchtet ihr unschuldiges Gesicht unter dem blonden Haar, das sie von meiner schwedischen Oma geerbt hat. Als Baby war sie so süß!

„Kohlekraftwerke“, korrigiere ich.

Wütend dreht Leni sich zu mir um: „Also ob es das besser macht!“

„Pschscht!“ sage ich. Niko darf auf keinen Fall aufwachen.

„Pschscht pschscht pscht!“, sagt Leni. „Oder zweitausend Windräder, Boomer.“

„Huch, sind Windräder jetzt auch schon verkehrt?“

„Weißt du, wie viele Vögel jeden Tag von piep Windrädern GETÖTET werden??? Wie geht die piep Sprechanlage aus!!!“

Puh, da fragt sie was. Gegensprechanlagen sind ja ein bisschen wie Gott. Oder wie Alexa. Sie sind immer da, immer an. Immer könnte ja jemand klingeln, ein Paketbote vielleicht, der tagsüber sein Pensum nicht mehr abgearbeitet bekommen hat, oder ein Handwerker, den wir vor drei Jahren mal bestellt haben, oder Anja ist aus Kenia wieder da und hat ihren Schlüssel im Koffer ganz unten....

Ich brauche dringend Schlaf. Die Tochter braucht dringend einen Triumph. Sie muss die Welt retten, und zwar jetzt. Kurz denke ich an den Inhalt der Kühltruhe. Dann denke ich an mein Bett.

„Schau hier“, sage ich, „das ist der Sicherungskasten.“

Leni wird mit einem Schlag ruhig. Neugierig. Stellt sich neben mich, so wie ganz früher, ihr Haar streift meinen Oberarm.

„Siehst du, das hier und das und das und das ist für die einzelnen Räume. Das Große ist der Haupt...“

Klick. Hat Leni ihn umgelegt. Die Hauptsicherung raus. Einen Moment lang ist alles ruhig und dunkel. Dann zerreißt ein wilder, irrer, animalischer Schrei die Nacht.

Den Schrei kenne ich. Es ist Niko. Das ist sein Fuck-Digga-wieso-ist-die-Playse-plötzlich-aus-Gebrüll.

Leni schaut mich an, macht ihr Erstaunter-Emoji-Gesicht. Ich gebe das Schulterzuck-Männchen. Und fange an, im Innern bis 30 zu zählen. Noch vor „8“ wird Niko aus seinem Zimmer schießen, und dann gute Nacht, gute Nacht. Dann ist mein Schlaf endgültig im Piep.

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Externer Autor: Klaus Ungerer.

Über Klaus Ungerer:

Klaus Ungerer war Feuilleton­redakteur der F.A.Z. und Textchef der Wochenzeitung „der Freitag“. Heute lebt er als Schriftsteller in Berlin. Seine Liebesnovelle „Wir sagen einfach alles, wovor wir Angst haben“ war 2022 für die „Welt am Sonntag“ „das beste Buch“. Im mare-Verlag ist gerade sein Stadtporträt „Mein Lübeck“ erschienen.


Für diese Kolumne ist er genau der Richtige: Klaus hatte schon immer den Energieverbrauch eines Hobbits. Keine Heizung im Winter, kein Führerschein. Nicht gern im Flugzeug. Kein Fleisch! Also, so gut wie ... Alles, was Energie und CO2 spart, macht eigentlich auch mehr Spaß: Fahrrad fahren, Schweine am Leben lassen, kuscheln. An sehr guten Tagen kann er sogar einfach im Park sitzen, statt durchs Netz zu surfen!


Er nimmt uns mit in seinen Familienalltag – und auf die Mission, nicht weniger als die Welt zu retten.